D. Dahlmann u.a. (Hrsg.): Die autokratische Herrschaft im Moskauer Reich

Cover
Titel
Die autokratische Herrschaft im Moskauer Reich in der "Zeit der Wirren" 1598–1613.


Herausgeber
Dahlmann, Dittmar; Ordubadi, Diana
Reihe
Studien zu Macht und Herrschaft 2
Erschienen
Goettingen 2019: Bonn University Press
Anzahl Seiten
267 S., 4 Abb.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gleb Kazakov, Historisches Institut, Osteuropäische Geschichte, Justus-Liebig-Universität Gießen

Die Zeit der Wirren oder Smuta stellt zweifellos die tiefste politische und soziale Krise des vormodernen Russischen Reichs dar, die die autokratische Herrschaftsideologie am Anfang des 17. Jahrhunderts vor große Herausforderungen stellte. Umso mehr verwundert es, dass die letzte monografische Abhandlung in deutscher Sprache zu diesem Thema aus den 1960er-Jahren stammt.1 Der Sammelband von Dittmar Dahlmann und Diana Ordubadi, der im Rahmen des Workshops im Bonner Sonderforschungsbereich 1167 „Macht und Herrschaft – Vormoderne Konfigurationen in transkultureller Perspektive“ entstanden ist, sieht sich deswegen vor die Aufgabe gestellt, diese Forschungslücke zu schließen und den deutschen Lesern Einblicke in die aktuellen Tendenzen der Smuta-Forschung zu geben. Wie die kurz gefasste Einleitung der Herausgeber ankündigt, beabsichtigt der Band, „die unterschiedlichsten Facetten der russischen Autokratie in der Phase ihrer Etablierung […] im interkulturellen Kontext“ zu betrachten. Dabei nimmt er ein Konzept der Macht in den Fokus, „das am Moskauer Beispiel als Baustein der Staatlichkeit in der Vormoderne gedeutet werden kann“ (S. 9). Das Autorenkollektiv zeichnet sich durch seinen internationalen Charakter aus: Unter den Beitragenden befinden sich die Namen einiger prominenter russischer und britischer Forscher.

Die Beiträge des Bandes sind in vier thematische Blöcke aufgeteilt. Im ersten Block widmet sich der Beitrag Dittmar Dahlmanns der quellenkritischen Auseinandersetzung mit zwei Zeitzeugenberichten über die Zeit der Wirren – der berühmten Schrift von Conrad Bussow und der Reisebeschreibung des 1606 in Moskau anwesenden Augsburger Juweliers Hans Georg Peyerle. Besonders wertvoll sind Dahlmanns Ausführungen über die zweite Quelle, die in der Smuta-Forschung bisher deutlich weniger Beachtung bekommen hat als Berichte anderer Ausländer. Der Artikel von Vladimir Klimenko beleuchtet die Ursachen der großen Hungersnot der Jahre 1601 bis 1603, die maßgeblich zum Niedergang der Regierung von Boris Godunov beitrug, aus klimatologischer Perspektive. Obwohl beide Beiträge sehr wichtige Ergänzungen zur Geschichte der Zeit der Wirren liefern, ist ihre Korrelation mit dem Thema „autokratische Herrschaft“ wenig nachvollziehbar. So geht Dahlmann lediglich in zwei abschließenden Absätzen seines Aufsatzes auf die Darstellung der Zarenmacht in den von ihm untersuchten Quellen ein (S. 47).

Fragen erweckt die Zusammenstellung des nächsten thematischen Blocks des Bandes – „Facetten der Autokratie in der russischen und chinesischen Geschichte“. Der Vergleich der Regierungsform des Moskauer Reichs mit anderen Beispielen autokratischer Herrschaftspraxis in der Weltgeschichte kann sicherlich ein gelungener methodischer Zugang sein. Dennoch behandelt der Beitrag von Christian Schwermann eine von der russischen Smuta chronologisch sehr weit entfernte Epoche in der Geschichte des chinesischen Kaiserreichs – das 3. Jahrhundert v. Chr. Schwermann beschäftigt sich detailliert mit der programmatischen Denkschrift des Kanzlers Li Si, der traditionell als Vordenker und Architekt der antiken chinesischen Autokratie gilt, kommt jedoch zum Fazit, dass diese Schrift eine Fälschung sei. Der Versuch, eine Verbindung zu russischen Entwicklungen herzustellen, wird aus dem Text nicht evident, was weder einen synchronen noch einen diachronen Vergleich mit der Moskauer Autokratie aufzeigen kann. Aleksandr Filyushkin bietet in seinem kurzen Aufsatz einen synoptischen Überblick an, wie autokratische Herrschaft in der Geschichtspolitik des russischen Staates ab dem 15. Jahrhundert und bis in die Gegenwart dargestellt wurde. Im Fokus der Betrachtung steht dabei hauptsächlich das Verhältnis der jeweiligen Epoche zur Figur Ivan des Schrecklichen. Manchmal zieht Filyushkin allerdings ein zu voreiliges Fazit. So schreibt er, dass „das Moskauer Reich und dessen Herrschaftselemente zu einem Symbol für politische Ineffizienz“ in der petrinischen Epoche wurden (S. 83), obwohl die petrinische Geschichtsschreibung Ivan IV. einen sehr wichtigen Platz in der russischen Geschichte zuwies und ihn durchaus als einen „starken Führer“ porträtierte. Außerdem bleibt fraglich, inwieweit sich der moderne Begriff „Geschichtspolitik“ auf die vormoderne Epoche des Moskauer Reichs übertragen lässt.

Mit der Regierungszeit Ivan des Schrecklichen und dem Phänomen der Opričnina – der Terrorherrschaft des Zaren in den Jahren 1565 bis 1572 – beschäftigen sich auch die Beiträge des dritten Blocks. David Khunchukashvili betrachtet die Gewaltanwendung während der Opričnina aus kultursemiotischer Perspektive. Seine einführende Anmerkung, wonach „nur wenige Forscher den Versuch unternommen haben, jene provokative, antichristliche und antiklerikale Vorgehensweise des ersten russischen Zaren […] zu verstehen und zu erklären“ (S. 123), scheint mit Blick auf das umfangreiche Literaturverzeichnis des Beitrages etwas weitreichend. Insgesamt gelingt es Khunchukashvili in Anlehnung an die Arbeiten der sowjetischen Historiker Dmitrij Lichačev und Aleksandr Pančenko über die Lachkultur Altrusslands2, die Opričnina als eine rituelle Verspottung der christlichen Herrschaftstradition, eine karnevaleske Antiwelt, darzustellen. Cornelia Soldat vergleicht die im Heiligen Römischen Reich der 1570er- bis 1580er-Jahre erschienenen Flugschriften über die Opričnina mit jenen Flugschriften, die zur selben Zeit den Landfriedensbruch beschrieben, den im Reich Ritter Wilhelm von Grumbach in den 1560er-Jahren begangen hatte. Eine der Schlussfolgerungen der Forscherin, wonach die Verfasser der Opričnina-Schriften in der Darstellung der Grausamkeit des russischen Zaren eine heimliche Kritik gegen die Ausdehnung der Macht des deutschen Kaisers formulierten (S. 171), scheint jedoch wenig überzeugend. Die Gewalttaten Ivan des Schrecklichen gegen die Kirche und die Landesbevölkerung sollten den deutschen Leser vielmehr an die Gräueltaten von Grumbachs erinnern, der von Kaiser Maximilian II. verfolgt und bekämpft wurde.

Erst die vier Beiträge des letzten Blocks stellen eine direkte Verbindung zum Titel des Bandes her und beschäftigen sich konkret mit Legitimations- und Repräsentationsstrategien zahlreicher Herrscher und Prätendenten während der Zeit der Wirren. Diana Ordubadi berichtet über die letztlich doch gescheiterte Legitimationskampagne des Zaren Boris Godunov. Isaiah Gruber macht eine begriffsgeschichtliche Untersuchung über den Terminus „Gesalbter Gottes“ (pomazannik božij) und die damit verbundenen altrussischen Vorstellungen über die sakrale Herrschaft. Adrian Selin, ein ausgewiesener Kenner der Geschichte Novgorods und Nordrusslands, beleuchtet die Argumente der Novgoroder Delegation, die in den Jahren 1611 bis 1615 die Ansprüche des schwedischen Prinzen Karl Philip auf den Moskauer Zarenthron zu rechtfertigen suchte. Maureen Perrie, die Autorin des Standardwerks über die „falschen Zaren“3, bietet Einblicke in die Legitimationsargumente der kosakischen Thronanwärter. Insgesamt erscheint der Kampf von politischen Ideologien und Konzepten während der Zeit der Wirren als ein riesiges Durcheinander, in dem verschiedene Akteure Gebrauch von unterschiedlichsten Legitimationsstrategien machen konnten – je nach Umständen und Konjunktur. Die Idee vom hereditären Prinzip des Machttransfers koexistierte mit dem Bild eines durch das Volk erwählten Herrschers; die Vorstellung von der sakralen Natur der Herrschaft, die nur Gott unterstellt war, führte paradoxerweise gleichzeitig zu Ungehorsam und Aufständen, falls Zweifel an der Auserwähltheit des Zaren aufkamen.

Resümierend lässt sich sagen, dass der Titel des Sammelbandes von Dittmar Dahlmann und Diana Ordubadi womöglich ungünstig gewählt ist: Fast die Hälfe der Beiträge weicht inhaltlich von dem sowohl im Titel als auch in der Einleitung deklarierten Thema ab. Unter den Beiträgen des Sammelbandes befinden sich sowohl ausführliche und fundierte Aufsätze als auch eher kurze, überblicksartige Essays. Einige Texte kehren zu den Themen zurück, die in der Forschung bereits früher angesprochen wurden, etwa die Legitimationskampagne Boris Godunovs bei seiner Zarenwahl 1598.4 Auf die wahrscheinlich größte Frage in der Geschichte der russischen vormodernen Autokratie – warum überlebte die autokratische Herrschaftspraxis die Krise der Smuta und wurde nicht von anderen Herrschaftsformen, wie zum Beispiel der Wahlmonarchie, ersetzt? – wird in den Beiträgen des Sammelbands nur beiläufig eingegangen. Dennoch geben die versammelten Texte eine gute Übersicht über aktuelle Tendenzen in der Smuta-Forschung und verdienen die Aufmerksamkeit jener Historiker, die sich mit der Zeit der Wirren und der russischen Autokratie im 16. bis 17. Jahrhundert beschäftigen.

Anmerkungen:
1 Helmut Neubauer, Car und Selbstherrscher. Beiträge zur Geschichte der Autokratie in Rußland, Wiesbaden 1964. Die ausführlichste Darstellung der Geschichte der Zeit der Wirren in der englischsprachigen Historiographie ist ohne Zweifel: Chester S. L. Dunning. Russia's First Civil War. The Time of Troubles and the Founding of the Romanov Dynasty, University Park 2001.
2 Dmitrij Lichačev / Aleksandr Pančenko, Die Lachwelt des alten Rußland, eingeleitet und herausgegeben von Renate Lachmann, München 1991.
3 Maureen Perrie, Pretenders and Popular Monarchism in Early Modern Russia. The False Tsars of the Time of Troubles, Cambridge 1995.
4 Dmitrij I. Antonov, Car‘ izbrannyj i car’ sveržennyj. Transformacija predstavlenij o vlasti v Rossii konca XVI – XVII v., in: Rossija 21/4 (2013), S. 114–133; Dmitrij I. Antonov, Smuta v kulʹture srednevekovoj Rusi. Evoljucija drevnerusskich mifologem v knižnosti načala XVII veka, Moskau 2009.

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